Sternstunden des Alpintourismus in Korsika

Sternstunden des Alpintourismus in Korsika (1960-1975)

Mai 2022
Auszug aus meiner Masterarbeit „Zwischen Alpinismus und Tourismus in Korsika“
Aus touristischer Sicht sind die korsischen Berge in den 60er Jahren noch lange nicht erschlossen. « Das Korsika der Touristen ist nicht das Korsika der Bergdörfer. » (Renucci, 1962) In 1961 gibt es im Landesinneren nur 410 Zimmer, 20 davon mit eigenem Badezimmer, während an der touristischen Küste über 3000 gezählt werden, zusätzlich zu den ersten Feriendörfern mit Bungalows.

Der 5km lange Sandstrand von Calvi lädt ein zum Fischen, Wassersport, Baden, Sonnenbaden und Schlummern. In den ersten deutschsprachigen Reiseführern wie von Lotte Komma findet man wichtige Hinweise zum Thema Wandern: „Der beschwerliche und auch gefährliche Anstieg der höchsten korsischen Gipfel ist nur sehr geübten Kletterern anzuraten.“ (Komma, 1962) Es sei äußerst ratsam sich vorher beim Touring Club (in Corti und Asco), CAF (Paris oder Porto), DAV (München) oder ÖAV (Dornbirn) zu informieren. Komma weißt auch daraufhin, dass es keine ausgebildeten Bergführer gibt, aber Einheimische die Führung übernehmen. Ebenso, dass man die Infrastruktur in keinem Fall mit der in den Alpen vergleichen kann: „Es gibt kaum Wege, keine Markierungen, keine Schutzhütten, keine Bergwacht, keine Träger, keine Möglichkeit, Verpflegung und Nachschub zu bekommen und vor allem nur wenig vollständiges Kartenmaterial.“ (Komma, 1966) Und trotzdem sind es hauptsächlich Deutsche, neben den Österreichern, Schweizern und Engländern, die als Alpinisten in die korsischen Berge kommen.

In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass die ersten IGN Karten mit Maßstab 1:25 000 ab 1956 produziert wurden, jedoch schwer erhältlich und lange Zeit unvollständig waren. Erst seit 1979 sind sie für Korsika durchweg lieferbar und in guter Qualität. Bis dahin bedienen sich Alpinisten an den Karten von Michel Fabrikant (, der sich wiederum an denen von Felix von Cube orientierte) oder den IGN Karten 1:50 000 oder 1: 100 000.
Isula Blog Beitrag

Michel Fabrikant et Hans Schymik

In den 60er Jahren gibt es die ersten „Projekte“, die für den Startschuss für eine Entwicklung zur touristischen Öffnung der korsischen Berge stehen. Zum Beispiel wird 1962 die korsische Bergwacht ins Leben gerufen. Aus touristischer Sicht gehört die Eröffnung gleich mehrerer Skistationen dazu. Die Erste am Col de Verghio in 1963. 

Es sind vor allem Michel Fabrikant aus Paris und Hans Schymik aus Aalen, die sich aktiv an der Gestaltung des korsischen Bergsports beteiligen. Hans Schymik (1927 – 1998), ursprünglich aus Sibierien, kommt das erste Mal nach Korsika 1960 im Rahmen einer Kundfahrt des DAV. Ihm ist der erste deutschsprachige Kletter- und Wanderführer für Korsika zu verdanken, der ihn in der Szene berühmt machte: Korsika für Bergsteiger und Kletterer (1968). Als Mitglied der DAV-Sektion Schwaben ist ihm insbesondere der Naturschutz und die Sicherheit am Berg ein wichtiges Anliegen. Ende der 60er Jahre richtet er über 30 Gipfelbücher auf den Bergen Korsikas ein, da sie sehr nützlich sein können, wenn Bergsteiger vermisst werden.

Michel Fabrikant aus Paris (1912-1989) ist ebenso ein passionierter Bergsteiger. Seit seiner ersten Reise nach Korsika im Jahr 1952 kommt er jedes Jahr zurück, um die Wege und Routen im Detail zu erforschen. Sein Buch Le Massif du Cinto (1964) wird der erste nahezu vollständige Guide, veröffentlicht vom Französischen Alpenverein CAF und der Fédération Francaise de la Montagne, und lange Zeit die französische Referenz bleiben.

Auf Initiative von Michel Fabrikant beschließt das Bergdorf Asco im Januar 1961 einen namenlosen Gipfel in ihrer Kommune nach dem wichtigsten Pionier der korsischen Berge Felix von Cube zu taufen: Monte Cube (2300m). Insofern bemerkenswert, da Von Cube ein Deutscher war. Der Medizinstudent und Bergsteiger hat mit einer kleinen Seilschaft in gerademal dreimal Expeditionen um die Jahrhundertwende 38 Gipfeln und 17 Neutouren inklusive Täler, Flanken und Rinnen systematisch erschlossen und minutiös eine topographische Karte des Cinto-Massivs angefertigt. Sein Kartenmaterial wurde lange als einzige Quelle benutzt. Er selbst hatte damals nur eine Generalstabskarte aus dem Jahr 1824 zur Hand. 

Amtlich anerkannt wurde die Benennung des Gipfels im Juli 1964 vom Ministerium in Paris. Einige Korsen nennen den Gipfel auch Punta Rossa, während in den IGN-Karten nur noch die Bezeichnung Pic von Cube steht. Gerüchte den Berg wieder umzubenennen halten sich wacker.

Die Erfindung von Haut-Asco « das Zermatt von Korsika » (1964)

Während der Tourismus an der Küste schlagartig Überhand gewinnt, sind es Fabrikant und Schymik, die sich um Naturschutz kümmern und die ersten Ideen eines Naturparks formulieren. Sie reagieren damit auf das Großprojekt, welches auf dem Plateau von Stagno (heute: Haut-Asco) entstehen soll. Dieses Plateau war ein wichtiger Ort für die Hirten der Region und die Mauern der Bergerien dienten bereits Felix von Cube und weiteren Kundschaftern als Unterschlupf und Basislager.

Der langjährige Bürgermeister von Asco (im Amt von 1929 bis 1977), Jean-Vitus Guerrini, hat 1934 zum ersten Mal die Idee einer Skistation, nachdem Asco aufgrund des enormen Schneefalls tagelang vom Rest der Insel isoliert war und schließlich Skifahrer zu Hilfe kamen. Er plant Gigantisches: Hotels, Chalets und Herbergen für 2000 Menschen sollen entstehen, dazu Geschäfte und eine moderne Skistation mit mehreren Liften. Auch eine Seilbahn von Stagno hoch zum Gipfel A Muvrella und runter zum Wald von Bonifato ist seit langem im Gespräch. Diskutiert wird auch ein Tunnel durch das Muvrella-Massiv, um den Tourist*innen aus der Balagne, die mit dem Flieger in Calvi landen, den Weg nach Asco zu erleichtern. Bisher scheiterten diese Projekte an der Finanzierung, doch im Winter 1964/65 wird schließlich eine Skistation mit 2 Liften samt Hotel eröffnet. Aufgrund der vielversprechenden lokalen Frequentation werden weitere große Projekte geplant, darunter ein Luxushotel auf dem Renosu.

Das erste internationale Bergsteigertreffen in Korsika (1966)

Parallel zu den Entwicklungen in Haut-Asco wird die Idee geboren, an der Stelle, wo die Bergerie de Stagno, das Basislager für Felix von Cube, für die Skistation abgerissen wurde, eine Gedenktafel zu errichten und eine große offizielle Einweihung des Pic von Cube zu feiern. Zum 90. Geburtstag von Von Cube, 2 Jahre nach seinem Ableben, organisieren Michel Fabrikant auf französischer Seite und Hans Schymik im Auftrag des DAV am Pfingstwochenende 1966 ein internationales Bergsteigertreffen (das einzige seiner Art auf Korsika bis heute), in dessen Mittelpunkt die Einweihung einer Gedenktafel für Von Cube steht. Die Gedenktafel, „ein wahres Kunstwerk“ (Fabrikant, 1966) des Stuttgarter Bildhauers Ernst Yelin, wird finanziert durch Spenden der Stadt Stuttgart, der Ärztekammer, der Firma Carl Zeiss und Spenden.

Über 400 Bergsteiger*innen aus fünf Nationen, darunter die wichtigsten Vertreter der Alpenvereine und Bürgermeister Guerrini höchstpersönlich, kommen an diesen beiden Tagen nach Haut-Asco. Neben der Einweihung der Tafel als Symbol der Freundschaft zwischen CAF und DAV steht auch eine gemeinsame Bergtour auf den Pic von Cube auf dem Plan. Das Stuttgarter Jugendkammerorchester unter der Leitung von Von Cubes Tochter Azone umrahmt die Feierlichkeiten mit festlicher Musik. Auch von korsischer Seite aus gibt es eine musikalische Darbietung der Gruppe La Manella aus Corte. 
Anlässlich des 100. Geburtstags wird eine Zusammenkunft wiederholt, allerdings in Stuttgart mit Besuch einer Delegation aus Korsika.

Die Entstehung des PNRC : Parc Naturel Régional de la Corse (1972)

Während man sich bemüht, Korsika zu einer „Vier-Jahreszeiten-Destination“ auszubauen, „darf man auf keinen Fall seine wilde Natur, den größten Schatz der Insel, zerstören!“ (Schymik) Fabrikant und Schymik haben aus dem Überentwicklung der Alpen gelernt und sehen Korsika als „die letzte ursprüngliche Region“. 

Ausgehend von den Idealen des DAV formuliert Schymik 1963 in Absprache mit Fabrikant ein Plädoyer für die Einrichtung eines Nationalparks, welches mithilfe des DAV und der Internationalen Alpenkommission der französischen Regierung vorgelegt wird. Zeitgleich findet eine erste Untersuchung im Auftrag von François Giacobbi (Bürgermeister von Venaco und Präsident des Conseil Général de Corse) statt. Er wird unterstützt von einem lokalen Syndikat (bestehend aus den 47 freiwilligen Gemeinden, der Landwirtschaftskammer, dem Staatsforst, etc.), die eine erste Charta zum Schutz der Flora und Fauna formulieren. 1967 wird in Frankreich die Klassifizierung « Parc Naturel Régional » (neben den Nationalparks) eingeführt, welche die Vorhaben erleichtern: 1969 stimmt die französische Regierung zu und 1972 wird per Dekret der Parc Naturel Régional de Corse gegründet. Ein Ziel ist die Aufwertung der alten pastoralen Wege zwischen den Dörfern (Transhumanz), aber auch die Entwicklung einer ersten Infrastruktur für nachhaltigen Tourismus. Zudem wird Haut-Asco samt dem Vallée d’Asco zum Reservat für Moufflons erklärt. 

Ab sofort müssen alle baulichen Maßnahmen mit dem Park abgestimmt werden. 50 Jahre später, im Jahr 2022, umfasst der Park mit 4402km² und 178 assoziierte Gemeinden mehr als die Hälfte der Insel.

Die Erfindung des GR20 (1972)

Auch an der Entstehung des heute legendären Fernwanderwegs GR20 (Grande Randonnée im Departement 20) sind Fabrikant und Schymik nicht unbeteiligt. Seit 1964 erstellt Fabrikant nach und nach einen zusammenhängenden Wanderweg, der „Haute Route Corse“ genannt wird und entlang des Hauptkamms führt, der die Insel von Nordwesten nach Südosten teilt. Er stützt sich u. a. auf die Aufzeichnungen von Jean Loiseau, der bereits 1938 die Itineraires de la Corse veröffentlichte und als der Urheber der „Grande Route“ gilt.

Im Jahr 1966 realisieren Gundel und Wolfram Foelsche, ein österreichisches Bergsteigerpaar und Freunde von Fabrikant, die erste Überquerung der Insel über die vorgeschlagene Route „Haute Route de Corse“, indem sie den Bergkämmen folgen, ohne dabei ein Dorf zu passieren. Damals fängt sie noch bei Speluncato an, führt über den Monte Corona direkt zur A Muvrella. Ein Jahr später wird sie, etwas angepasst, veröffentlicht als Haute Route de Corse. Fabrikant erklärt, wie wichtig es ist, dass Selbstversorgerhütten entstehen und Wege angelegt und unterhalten werden müssen. Gleiche Ansätze verfolgt Guy Degos, Ingenieur bei der Forst- und Landwirtschaftsdirektion des Departements, und beauftragt Fabrikant damit für den CNSGR ganz offiziell eine den Fernwanderweg GR20 zu realisieren. Das CNSGR (Comité National des Sentiers de Grande Randonnée) wurde 1947 auf Initiative des oben genannten Jean Loiseau gegründet, um Fernwanderwege in Frankreich anzulegen, darunter der TMB, den ersten offiziellen GR um den Mont Blanc herum.

1970 markieren Michel Fabrikant und Hans Schymik mit vielen korsischen Mitstreiter*innen  den GR20. Die ersten beiden Hütten entstehen 1971: Pietra Piana und Campiglione (letzteres nicht mehr existent). Mit Entstehung des PNRC in 1972 wird die Instandhaltung der Wege einem Team des Parks unterstellt und die ersten Ranger werden angestellt.  15 Jahre wird es dauern, um die 13 (aktuellen) Unterkünfte der Etappen aufzustellen. Damals war der Verkauf von Lebensmitteln auf den Hütten verboten und jeder Wanderer musste sein Essen selbst mitnehmen. 

Heutzutage sind sie komplett bewirtschaftet und sogar der Transport von Rucksäcken zwischen den Etappen wird angeboten. In den letzten Jahren sind die alpinen Tourist*innen auf dem GR20 enorm angestiegen auf geschätzte 20 000 im Jahr.

Der erste korsische Bergführer (1983)

Ab den 70er Jahren ist das Interesse der Kors*innen am Bergsport deutlich gewachsen. Es entstehen zahlreiche Sportclubs, lokale Reiseagenturen und Wandervereine wie I Muntagnoli (1973 in Corti gegründet), und lokale Kletterer machen sich einen Namen wie Pietri und Griscelli. Jean-Paul Quilici, ein Tourenführer des PNRC, erhält als erster Korse 1983 die Lizenz zum internationalen Bergführer. Dank der Einführung des französischen Diploms Accompagnateur en moyenne montagne in 1984 (eine sehr anspruchsvolle Ausbildung zum Bergwanderleiter) gehen viele junge Kors*innen und Zugezogene dieser Disziplin auf Korsika nach und führen heutzutage die Gäste auf die korsischen Gipfel und vermitteln dabei ihre Kultur und die Schätze der Natur. Seit Jahren gibt es einen Run (im wahrsten Sinne des Wortes) auf Ultratrails und Marathonläufe durch die Berge, zum Beispiel der Trail Via Romana, der Restonica Trail oder seit neustem der GirolaTrail, allesamt initiiert von lokalen Akteur*innen.

Quellenverzeichnis und weiterführende Literatur:

Felix VON CUBE : Bergsteiger, Naturforscher, Arzt. Alpine Klassiker Band XVI. München, Verlag J. Berg, 1992
Michel FABRIKANT : L’Alpinisme. Corsica Viva, 1963 (n°1)
Michel FABRIKANT : Von Cube. Corsica Viva, 1964 (n°5)
Michel FABRIKANT : Guide des montagnes de Corse. Le Massif du Cinto. Paris, l’auteur, 1965
Michel FABRIKANT : Rassemblement international d’alpinistes. Corsica Viva, 1966 (n°11)
Michel FABRIKANT, Wolfgang FOELSCHE : A travers la Corse, 1967 (n°14)
Irmtraud HUBATSCHEK : « La Corse des premiers alpinistes (1852-1940) » in : Collectif, La Corse et le tourisme 1755-1960, catalogue de l’exposition, Corte, Musée de la Corse / Albiana, 2006
Irmtraud HUBATSCHEK, Joël JENIN : La Corse des premiers alpinistes 1852 – 1972. Ajaccio, Éditions Alain Piazzola, 2021
Lotte KOMMA : Von Wunder zu Wunder. In Merian 15/3. Hamburg, Hoffmann und Campe, 1962
Lotte KOMMA : Korsika. Bonn, Kurt Schroeder Verlag, 1966 (3eme edition)
Janine RENUCCI : La Corse et le tourisme. Revue de géographie de Lyon, vol. 37, n°3, 1962
Dider REY et Ludovic MARTEL (dir.) Les sports en Corse, miroir d’une société, catalogue de l’exposition, Corte, Musée de la Corse / Albiana, 2012
Didier REY, Ludovic MARTEL : Sports et société en Corse depuis 1945. Ajaccio, Albiana, 2009
Hans SCHYMIK : Die Berge Korsikas – einst - heute und morgen. Bergsteiger, DAV, 1964
Hans SCHYMIK : Korsika für Bergsteiger und Kletterer. Aalen, l’auteur, 1987
Pierre SIMI : Précis de géographie physique, humaine, économique, régionale de la Corse. Société des Sciences Historiques et Naturelles de la Corse, Collection Corse d’hier et de demain, no 11, Bastia, Imprimerie Sammarcelli, 1981
https://www.ign.fr/institut/notre-histoire
https://www.ina.fr/ina-eclaire-actu/video/caf93053002/naissance-du-ski-en-corse
https://www.randonnee.umspc.com/?page_id=1736